René Mense – Komponist


 

 

Drei Lieder (2010)
nach Gedichten von Rainer Maria Rilke
für Koloratursopran und Klavier

UA am 27.4. 2011; Lichtwarksaal, Hamburg, durch Frauke-Maria Thalacker und Henning Lucius.

  1. Eau qui se presse, qui court
  2. Entre le masque de brume
  3. Atmen, du unsichtbares Gedicht!

Nr. 1 und 2 aus Vergers (Obstgärten), 1924
Nr. 3 aus Die Sonette an Orpheus, Zweiter Teil, 1922

I
Eau qui se presse, qui court -, eau oublieuse

que la distraite terre boit,
hésite un petit instant dans ma main creuse,
souviens-toi !

Clair et rapide amour, indifférence,
presque absence qui court,
entre ton trop d'arrivée et ton trop de partance
tremble un peu de séjour.

Notenbeispiel (PDF)

Wasser, das drängt, das rinnt -, vergessliches Wasser,
das die zerstreute Erde trinkt,
zögert einen kleinen Moment in meiner gefalteten Hand,
erinnere dich!

Klare und flüchtige Liebe, Gleichgültigkeit,
fast Abwesenheit, die verrinnt
zwischen deinem zu viel an Kommen und deinem zu viel an Verschwinden,
zittert ein wenig vom Aufenthalt.

II
Entre le masque de brume

et celui de verdure,
voici le moment sublime où la nature
se montre davantage que de coutume.

Ah, la belle ! Regardez son épaule
et cette claire franchise qui ose ...
Bientôt de nouveau elle jouera un rôle
dans la pièce touffue que l'été compose.

Zwischen dem Schein des Dunstes
und dem des Grüns,
dies ist der erhabene Moment, in dem die Natur
sich mehr als üblich zeigt.

Ah, die Schöne! Betrachtet ihre Schulter
und diesen klaren Freimut, der wagt …
Bald wird sie von Neuem eine Rolle spielen
in dem dichten Stück, das der Sommer komponiert.

aus: Vergers (1924)

III
Atmen, du unsichtbares Gedicht!
Immerfort um das eigne
Sein rein eingetauschter Weltraum. Gegengewicht,
in dem ich mich rhythmisch ereigne.

Einzige Welle, deren
allmähliches Meer ich bin;
sparsamstes du von allen möglichen Meeren, -
Raumgewinn.

Wieviele von diesen Stellen der Räume waren schon
innen in mir. Manche Winde
sind wie mein Sohn.

Erkennst du mich, Luft, du, voll noch einst meiniger Orte?
Du, einmal glatte Rinde,
Rundung und Blatt meiner Worte.

aus: Die Sonette an Orpheus, Zweiter Teil (1922)

Notenbeispiel (PDF)

Die Komposition meiner Drei Lieder verdankt sich dem glücklichen Zufall eines Wiedersehens. Als ich im Mai 2010 zum ersten Mal an der jährlichen Mitgliederversammlung der Gustav-Mahler-Vereinigung Hamburg, der ich im Sommer 2009 beigetreten war, teilnahm, traf ich unter den Anwesenden auch den Pianisten Henning Lucius. Ich kannte ihn aus zwanzig Jahre zurückliegenden Studienjahren an der Hamburger Musikhochschule. Bereits damals habe ich sein virtuoses Spiel bewundert - eine Cellosonate von Mendelssohn, die er einmal begleitete, ist mir dabei besonders in Erinnerung.

Angeregt durch ein Konzert im Anschluss an die Versammlung kamen wir rasch ins Gespräch über Mahlers Lieder und ich erfuhr, dass einige Lieder auf einer CD erscheinen würden, die Henning Lucius gerade mit Frauke-Maria Thalacker aufnahm. Ich war sehr erfreut zu hören, dass auch Lieder von Franz Liszt auf dem Programm dieser Aufnahme standen, denn ich beschäftigte mich zu der Zeit selbst im Gesangsunterricht mit Liedern von Liszt und war (nicht zum ersten Mal) begeistert von dem kraftvoll erneuernden Geist, der diese geschaffen hatte: in diesen ungewöhnlichen Liedern stehen Formen dramatischer Herkunft wie Rezitativ, Arie, ja selbst Szene neben "südlich" anmutenden Canzonen und stillem Gebet. Wenn man seine gelegentliche Hinwendung zur "Zigeuner"-Thematik und ein gewisses damit einhergehendes musikalisches Idiom einmal beiseitelässt, fehlt in Liszts Liedschaffen gerade das, was für Gustav Mahler ursächlich das Singen bestimmte: das Volkslied bzw. der "Volksliedton". Der vielsprachige Liszt fand seine Texte bei Dichtern mehr oder weniger aus seinem europaweiten Umfeld, nicht selten bei Zeitgenossen. Mahler, der bereits in jungen Jahren in den Klassikern belesen und zuhause war, fand die Texte für seine Lieder interessanterweise aber nicht im literarischen Kanon, sondern in "Des Knaben Wunderhorn". Für diese Präferenz mag der Widerhall eigener schmerzlicher Erfahrungen, den die Gedanken- und Gefühlswelt dieser Volksdichtung bei ihm ausgelöst hat, den Ausschlag gegeben haben. Das Außergewöhnliche aber ist, dass Mahler die so persönlich geprägte Wunderhornwelt zur Grundlage seiner ersten vier Sinfonien gemacht hat. Oder anders formuliert: dass er das Private des Liedes zu Bausteinen des Allgemeinsten der bürgerlichen Kultur, der Sinfonie, geformt hat.

Dies waren einige der Gedanken, die ich mir machte, nachdem Henning Lucius mich bei dem besagten Wiedersehen fragte, ob ich für einen Mahler und Liszt gewidmeten Liederabend mit Frauke-Maria Thalacker und ihm etwas schreiben wollen würde. Besonders reizvoll fand ich, dass das Programm dieses Abends auch französischsprachige Lieder von Liszt enthalten sollte. Den Auftrag nahm ich daher sehr gern und dankend an. Wenig später lernte ich dann auch persönlich die vielseitige und virtuose Kunst von Frauke-Maria Thalacker kennen und hoch schätzen.

Ich möchte im Folgenden kurz umreißen, welcher Gedanke die Textauswahl und -vertonung meiner Lieder angeregt hat: Da Volkslied und -dichtung keine Verwendung in meinem Stück finden konnten, musste ich einen anderen Ausgangspunkt suchen. Ich bezog ich mich daher auf einen besonderen Aspekt der Lyrik Rilkes seit den "Neuen Gedichten" (1907/08), das sogenannte "Dinggedicht". Dieser Terminus bezeichnet Rilkes neuartige Form des lyrischen Sich-Versenkens in den Gegenstand mit dem Ziel, diesen "selbst" sprechen zu lassen. Ich sehe darin ein bewusstes Heraustreten aus den Bahnen romantischer Dichtung, die von einem subjektiv-projektiven Verhalten zu den Dingen geprägt war mit "Natur" als Projektionsfläche. Im Dinggedicht ist das lyrische Ich von der Last der Verdinglichung befreit, da "die Dinge" bei sich gelassen werden. So wird es möglich, das Verhältnis von Ich und Welt als stetig fließenden Austausch, als schaffend-geschaffenes Atmen, zu fassen.

Die beiden von mir vertonten französischsprachigen Gedichte haben jeweils einen äußerst kurzen, kaum zu fassenden Moment zum Inhalt: das flüchtig durch die gefalteten Hände rinnende Wasser im ersten und die erhabene Schönheit der sich dem Dunst entwindenden Natur im dicht gewobenen Spiel des Sommers im zweiten Gedicht. Ein Zögern, darin sich Ankunft und Verschwinden, Erinnern und Vergessen überschlagen, unterstreicht noch die Kürze des Moments. Der Gesang geht an zwei Stellen im ersten Lied über in Sprechgesang und Sprechen. Im zweiten Lied brechen die besungenen freien Kräfte der unverhüllten Natur sich in Zwischenspielen des Pianisten Bahn, in denen der Klangraum schlagartig vergrößert wird, u.a. durch auf verschiedene Weise zum Weiterklingen gebrachte Resonanzen. Die derart erzeugte rapide Bewegung schleudert die verdichtete Zeit der beiden Momente in die Weite des Weltraums. An diesem Übergang hebt die eine Sprache sich auf in der anderen und es heißt: Atmen, du unsichtbares Gedicht!  Hier schreibt Dichtung selbst - orphisch verstanden als Singen - sich als rhythmische Gegenbewegung in das lyrische Ich ein, das, unsichtbar, im Äther wie in einem Meer zugleich aufgelöst und geformt ist.

Es würde den Rahmen dieses Textes sprengen, im einzelnen zu zeigen worin ich den Bezug zu Liszt und Mahler sehe. Nur soviel: Gustav Mahler hat 1895 gesagt "Symphonie heißt mir eben: mit allen Mitteln der vorhandenen Technik eine Welt aufbauen". Um hier nur von den ersten vier Sinfonien zu sprechen; in enger Anlehnung an seine Wunderhornlieder hat er in diesen Partituren einen klingenden Kosmos geformt, in dem Romantik, ähnlich wie bei Rilke, allenfalls noch stichwortgebend wirkt. Der bloße Naturlaut - das Sirren am Beginn der ersten Sinfonie - später die Tieres des Waldes und in der dritten Sinfonie Pan, alles liest Mahler als Stufen einer allumfassenden Entwicklungsgeschichte, derjenigen des Menschen, der aus dem "naiven" Naturzusammenhang heraustritt und sich vom Urlicht durchstrahlt bis zu den himmlischen Freuden und der göttlichen Liebe emporschwingt. "Ich bin von Gott und will wieder zu Gott!". Anders hat auch Franz Liszt sich nicht gesehen. Ich verstehe diese Hin- und Rückwendung zu Gott aber nicht als romantische Sehnsucht, wie zu einem fantastischen Arkardien, sondern als ein aus der Moderne erwachsenes Bewusstsein von der (Natur)-Geschichtlichkeit des Menschen. Die Rückbindung erweist sich als die Voraussetzung des Fortschritts, gerade auch des "technischen" zum "Aufbau einer Welt".

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