René Mense – Arrangeur


 

 

Hirten- und Minnelieder
für Singstimme und Tasteninstrument oder Gitarre

Vorwort der im Peer Musikverlag Hamburg erschienenen Notenausgabe (Klavier, Gitarre):

  In der vorliegenden Veröffentlichung werden fünf Melodien aus dem nordfranzösischen Sprachraum in der Originalsprache in eigens verfassten Arrangements für eine Singstimme (Mezzosopran) mit Begleitung eines Cembalos (oder Klavier) vorgestellt.

  Die Entstehungszeit der Lieder ist in etwa die Zeit zwischen 1100 und 1250.

  Zwei Lieder: La douze vois del rosignol sauvage sowie Par desous l´ombre d´un bois gehören zum Repertoire der Trouvères, welche die nordfranzösischen Nachfahren der provinzialischen Troubadours sind. Die hohe Dicht- und Gesangskunst der Trouvères (von franz. „trouver“ = finden) begründete den eigentlichen höfischen Minnesang, während die drei anderen hier vorgestellten Stücke eher volkstümlichen Charakters sind und von den Jongleurs (Spielleute) - später auch Ménéstrels genannt – auf den Märkten der Städte vorgetragen wurden. Während diese Spielleute zunächst mit am unteren Rand der sozialen Schichtung standen, erfuhren sie später eine gewisse Aufwertung, indem sie sich hohen Herren anschlossen, in deren Dienst sie als Hofsänger traten.

  Das Thema der Jongleurs war noch nicht die hohe Minne der Aristokraten. Die Minne war eine Form rein geistiger Liebe zwischen einem hohen Herrn (chévalier) und einer Dame am Hof, die von ins Göttliche überhöhten Bildern geprägt ist. Die Spielleute richteten ihre Erfindungskraft vornehmlich auf das in Frankreich übrigens noch bis ins 20. Jahrhundert hinein beliebte Schäferidyll (Pastourelle). Daneben sangen sie jahreszeitlich inspirierte Lieder, allen voran die Mailieder, sowie verschiedene Liebeslieder aus der Perspektive von Frauen und Kreuzzugslieder.

  In sehr vielen Fällen sind die Texte ohne Melodien überliefert. Erscheinen Text und Musik zusammen, handelt es sich stets um eine Notation, aus der die genaue Länge der Noten noch nicht eindeutig hervorgeht. In der Übertragung wendet man gewöhnlich Rhythmen an, die antiken Versmaßen (Modalrhythmik) entlehnt sind. So war es auch in der sakralen Musik an Notre Dame de Paris, die zur der Zeit die fortschrittlichste war.

  Seit etwa 1280 begannen Mathematiker und Komponisten (zuweilen wie damals nicht unüblich in einer Person) eine Notation zu entwickeln, die es erlaubt, die Länge der Noten genau zu bestimmen (Mensuralnotation). Diese Neuerung war mit der so genannten ars nova 1320 im wesentlichen abgeschlossen, obgleich die Notenschrift noch bis ins frühe 16. Jahrhundert weiter entwickelt wurde.

  Wie wurden die Melodien aus dem Repertoire der Jongleurs und Trouvères nun praktisch umgesetzt?

  Zunächst traten zu der Singstimme verschiedene Instrumente, welche die Melodie  improvisierend umspielten. Dieses Verfahren nennt man Heterophonie, weil im Grunde alle mehr oder weniger dasselbe spielen, es aber noch keine echte Mehrstimmigkeit (Polyphonie) gibt. Polyphonie wurde erst mit der oben beschriebenen Entwicklung der Mensuralnotation möglich. Im Einführungstext zum ersten Lied Robin m´aime findet sich eine wichtige Ergänzung hierzu.

  Ich habe für meine Arrangements polyphone Begleitsätze erfunden, die in vielen vor allem harmonischen Details von der Musik des 14. bis 17. Jahrhunderts geprägt sind. Um eine historisch korrekte, gar „authentische“ Umsetzung kann es meiner Auffassung nach bei diesen Liedern höchstens näherungsweise gehen.

  Ich fühlte mich zu meiner Entscheidung auch durch all jene Bearbeitungen ermuntert, die von den Melodien in den genannten Jahrhunderten immer in dem Stil und der Kompositionstechnik der jeweiligen Zeit gemacht wurden, mithin also alles andere als authentisch sind.

  Das Lied La douze vois del rosignol sauvage habe ich beispielsweise in der Form einer isorhythmischen Motette bearbeitet. Diese Technik kommt direkt aus der ars nova und wurde von Guillaume de Machaut in der Mitte des 14. Jahrhunderts zur Vollendung gebracht. Isorhythmie bedeutet, dass eine Reihe von verschieden langen Noten mehrmals wiederholt wird, wobei die Notenwerte halbiert oder verdoppelt werden können. Es können auch mehrere Stimmen in dieser Weise in einem Stück behandelt werde. So habe ich es mit den Begleitstimmen zu diesem Lied gemacht.

  Als letzten Punkt möchte ich noch auf die Verwendung von Vorzeichen zu sprechen kommen: Die Tonalität der alten Melodien ist schlicht und kennt höchstens den unteren Halbton zum Grundton. Mit der oben beschriebenen Entwicklung der Mensuralnotation hat sich auch das Tonalitätsverständnis weiterentwickelt. Viele Komponisten haben ihre rhythmisch vertrackten Motetten mit zusätzlichen Halbtönen gewürzt, was sie aber nicht immer konsequent in den Noten verzeichnet haben, so dass es zu großen Verwirrungen und oftmals erbitterten Debatten in der Musikkorrespondenz der Zeit kam. Daraus hat sich bei einigen Theoretikern ein ans Spekulative heranreichendes System von willkürlich hinzugefügten Halbtonschritten entwickelt. Das ist die so genannte musica ficta, bloß „vorgestellte“ Musik, was sich auf diejenigen Halbtonschritte bezieht, die jeder Sänger unwillkürlich am Ende eine Phrase in der Kadenz gemacht hat. Alles was über diese Vorzeichen, die in der Regel eben nicht notiert wurden, hinausging war höchst strittig. Festzuhalten bleibt, dass mittels weiterer Halbtonschritte sich vorzügliche harmonische Wendungen erzeugen lassen, die den Ausdruck der Musik sehr bereichern. Dies war für mich ein Leitfaden bei der zuweilen vielleicht etwas ungewöhnlichen Tonwahl, wobei ich selbstverständlich alle Vorzeichen notiert habe, damit es keinen Streit gibt.

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